Dem Leben zugehört
Vom Erinnern, Erzählen und Weitergeben – Lebenshörbücher in ihren vielen Formen
Kreieren Sie zum Beispiel eine persönliche Geburtstagssendung. Verschenken Sie eine Audio-Collage – gestaltet wie ein kleines Feature oder Hörspiel. Vielleicht mit Originaltönen, die noch auf alten Kassetten schlummern. Oder mit der Lieblingsmusik des Jubilars, eigenen Klavierstücken oder Gitarrenklängen.
Lassen Sie sich selbst oder nahestehende Menschen zu Wort kommen – und archivieren Sie wertvolle Stimmen: auf einer CD, einem USB-Stick oder einem anderen Speichermedium. Verpackt in einer schön gestalteten Hülle wird daraus ein ganz persönliches Geschenk. Auch Audiokarten eignen sich dafür: sie sind unabhängig von Geräten – man nimmt sie einfach in die Hand und hört zu.
In jedem Fall kann es bewegend und faszinierend zugleich sein, vertraute Stimmen wiederzuhören – gerade dann, wenn deren Träger:innen längst nicht mehr unter uns weilen. Viele Menschen, die das erlebt haben, berichten von tiefen Momenten des Erinnerns – und manchmal auch von einem leichteren Loslassen. Schenken Sie für ein paar Sekunden Ihre Aufmerksamkeit Frau Anneliese Höppenstein, die in einem privaten Hörbuch mehr aus ihrem Leben erzählt:
Anneliese Höppenstein, die 2007 verstarb, hat mit ihren Aufzeichnungen ein eindrückliches Bild ihres Lebensweges hinterlassen. Ihre Gedanken, dokumentiert in einem persönlichen Lebenshörbuch, lassen erahnen, was sie bewegt hat – leise, authentisch, und hier nur für einen kurzen Moment mit der eigenen Stimme zu hören. Gerade diese Zurückhaltung verleiht ihrem Beitrag eine stille Kraft. Solche dokumentierten Lebensspuren zeigen, wie bedeutsam das Festhalten von Erinnerungen sein kann – auch in Tönen. Und dass das Lebenshörbuch nicht an eine bestimmte Form gebunden ist. Denn auch Reinhard Mey erzählt auf seine ganz eigene Weise: musikalisch, poetisch und mit der Erfahrung eines langen Künstlerlebens.
Eine alte Musikkassette – und der Klang eines wiedergefundenen Moments
Ein Konzertabend mit Quadro Nuevo, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Enrique Ugarte, im Haus des Rundfunks in der Berliner Masurenallee brachte mehr als nur Musik zurück. Denn an diesem 31. Oktober 2025 schloss sich vielmehr ein Kreis, der vor über drei Jahrzehnten begonnen hatte – damals, kurz nach dem Mauerfall, als ich noch als Musikredakteurin bei Radio aktuell arbeitete. Und dort begegnete ich plötzlich einem jungen Musiker aus dem Baskenland – Enrique Ugarte – offiziell als Gast aus dem sogenannten „nicht sozialistischen Ausland“.
Im DDR-Rundfunk war uns Musikredakteur:innen genau vorgeschrieben, wie viel Musik aus westlichen Ländern gesendet werden durfte – nicht mehr als vierzig Prozent. Doch Anfang der 1990er Jahre änderte sich plötzlich alles: Bisher Unerlaubtes war auf einmal erlaubt. Künstler:innen „aus dem Westen“ fanden überraschenderweise – meist erstmals überhaupt – ihren Weg in die „kleine Stadt in der großen Stadt“ im Osten von Berlin. Und einer von ihnen war jener lebenslustige junge Musiker – offen, mit Schalk im Nacken und großer Begeisterung. Für eine meiner Sendungen nahm ich mit ihm ein Gespräch auf, das ich später kaum mehr in Erinnerung hatte. Die Sendung hieß „Musik spezial“ – ein Titel, der rückblickend fast symbolisch wirkt. Denn auch damals hätte ein Ensemble wie Quadro Nuevo, mit seiner Mischung aus Jazz, Tango und mediterranen Klängen, perfekt hineingepasst. Nur wenige Wochen nach dem ausgestrahlten Interview erlebte ich Enrique Ugarte 1991 dann live beim World Music Festival in Hamburg – einer Stadt, die bis dahin jenseits der erlaubten DDR-Reisewelt lag, in der Reisen im Grunde nur gen Osten möglich waren. Umso unvergesslicher war es, dort zum ersten Mal ein Konzert dieser Art erleben zu dürfen. Bis heute erinnere ich mich noch an Momente, in denen ich glaubte, vor Begeisterung neben mir zu sitzen. Weiterlesen ...
„Nach Haus“ – Ein Lebenshörbuch in Liedform mit Tiefe und Erinnerungsraum
„Nach Haus“ wirkt wie ein Hörbuch – jedoch nicht in gesprochener Sprache, sondern in Liedern, die Geschichten erzählen und Erinnerungen lebendig werden lassen. Jedes Stück öffnet einen persönlichen Ausblick: auf Ehe und Partnerschaft, auf Verluste, auf gesellschaftliche Umbrüche – und auf das, was bleibt, obwohl es vergangen ist. Besonders das Lied „Die Legende von den Liebenden“ berührt mit seiner stillen Andeutung einer Liebe, die zu schön war, um von Dauer zu sein. Zwischen den Zeilen klingt auch die Erinnerung an Reinhard Meys Sohn an – nicht direkt benannt, aber spürbar im Ton.
Mit „Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und Checkpoint Charlie“ knüpft Mey an das geteilte Berlin an – ein Kapitel, das für viele mit persönlichen Erinnerungen verbunden ist. Auch sein Lied „Mein Berlin“ – lange vor der Maueröffnung 1974 entstanden – hallt hier nach. So entsteht ein Klangraum, in dem sich Ost und West, persönliche und kollektive Geschichte begegnen.
Durch die Kombination von autobiografischen Texten und vielen privaten Fotografien entsteht ein intensives Hörerlebnis und damit „Lebenshörbuch“, das nicht erklärt, sondern fühlen lässt. II Hör-Übersicht I Website Reinhard Mey
Während bei Anneliese Höppenstein das individuelle Erinnern im Vordergrund steht und bei Reinhard Mey der künstlerisch-musikalische Rückblick Raum einnimmt, öffnet sich im nächsten Beitrag ein weiterer Zugang: das Familienhörbuch – als Vermächtnis. Immer wieder gibt es Menschen, die wissen, dass sie nur noch begrenzte Zeit haben – sei es durch Alter oder Krankheit. In solchen Momenten wächst oft der Wunsch, den eigenen Kindern oder Enkeln etwas zu hinterlassen: Gedanken, Geschichten, Lebenserfahrung – in der eigenen Stimme. Das Familienhörbuch wird so zu einer Form der Weitergabe, des Abschieds und der Verbundenheit.
Die Journalistin Judith Grümmer hatte aus der Frage "Was bleibt, wenn ein Mensch geht?" im Jahr 2019 das bewegende Projekt "Familienhörbuch" ins Leben gerufen. Sie schenkt damit Audio-Biografien der so ganz anderen Art kranken Menschen, die ihre Lebensgeschichte für ihre Verbliebenen aufnehmen können. Das als bleibende Erinnerung in der eigenen Stimme. Dazu führen jeweils ausgebildete Biograf:innen mehrere Tage lang professionell einfühlsame Gespräche: Zu Hause, im Hospiz oder, wenn nötig, am Sterbebett. Der Weg zum "Familienhörbuch" I WebsiteII HörTipp:
Unvergessen bleibt in dem Zusammenhang das voraus gegangene und inzwischen weit zurückliegende Wochenenderlebnis in sehr kleiner Runde. In ähnlicher Form kann dieses schon damals zeitlose Seminarangebot in Varianten nach wie vor durchgeführt werden. Immer vorausgesetzt, dass sich dabei alle Teilnehmenden gegenseitig ausreden lassen, nichts werten, keine Rat-Schläge verteilen, alles freiwillig Ausgesprochene vertraulich bleibt. Lesen Sie bitte weiter ...
Als ich vor wenigen Monaten eher zufällig auf eine alte Musikkassette stieß, bekam das, was damals ein einmaliges Erlebnis gewesen war, Jahrzehnte später einen unerwarteten Nachklang. Denn beim genaueren Hinsehen – besser: Hineinhören – in die Aufnahmen erkannte ich, dass sie auch mein Gespräch mit Enrique Ugarte enthielt. Ich hatte völlig vergessen, dass ich ihn damals überhaupt interviewt hatte. Denn als Musikredakteurin gestaltete oder begleitete ich Sendungen meist musikalisch, führte aber nur selten selbst Gespräche mit Musikern. Allein schon deshalb war das Wiederhören ein Moment des Staunens: unsere jungen Stimmen, neugierig, voller Enthusiasmus – und Enrique, der über Musik sprach, als wäre sie ohne Vorgaben und Grenzen.
Ein Blick zurück auf das Berliner Konzert am 31. Oktober 2025 erinnert auch daran, dass das Rundfunk-Sinfonieorchester Anfang der 1990er Jahre – ebenso wie ich – noch in der Nalepastraße beheimatet war. Heute, so viele Jahrzehnte später, spielt es längst in verjüngter Besetzung, fern dieser Straße, am anderen Ende der Stadt. So auch im großen Sendesaal des RBB, wo sich ein Kreis schloss, der 1991 begonnen und sich 2025 vollendet hat – ein Kreis aus Klang, Erinnerung und Lebenswegen, vom Tonband in meiner Kassettenschachtel bis zu den strahlenden Tönen im Raum.
Musik ist mehr als Zeit: Sie ist Verbindung.