TAMARA
"Loslassen geht erst wenn die Geschichte erzählt ist."
Seit seinem Studium an der OSTKREUZ Schule für Fotografie in Berlin arbeitete Jonas Ludwig Walter als Fotograf im Auftrag für Magazine wie stern, Die Zeit, chrismon und Freitag, bevor er sich entschied, Filme zu drehen, um umfassender visuell zu erzählen. Sein mittellanger Film SIEBENPUNKT hatte schon 2018 auf dem Max Ophüls Preis Premiere. Fünf Jahre später legte er dort sein Kinodebut als Regisseur vor - produziert von Jost Hering, koproduziert als "ZDF | Das kleine Fernsehspiel". Der Film TAMARA erzählt von einer 1990 geborenen Frau, die wie viele andere junge Menschen auch die östlichen Bundesländer in den 2000er Jahren ihre Heimat verließ. Um ihr Elternhaus vor dem Verkauf zu retten, kehrt sie eines Tages widerwillig dorthin zurück. Als kurz nach ihrer Rückkehr ihr Vater bei einem Unfall ums Leben kommt und noch im Schock sich die ganze Familiengeschichte als Lebenslüge herausstellt, sind sie und ihre Mutter Barbara auf sich selbst zurückgeworfen. Während ihre Mutter Barbara gelernt hat zu schweigen, um sich zu schützen, erkennt die Tochter Tamara die Leerstelle um die eigene Herkunft. Und sie muss sich dem stellen, wovor sie einst weggelaufen ist: ihrer eigenen Geschichte.
Es begeistert, wie der junge Regisseur und Drehbuchautor in geradezu bewundernswerter Weise noch mal neu auf das vereinte Deutschland schauen lässt. Er, der 1984 in der DDR geboren, aber letztendlich in der Bundesrepublik sozialisiert wurde. Eine Tatsache, die nicht verhindern wird, dass er von einem anderen, einem längst verschwundenen Land geprägt bleibt.
Jonas Ludwig Walter schildert weitgehend autobiografisch die Tragödie vom Tod des vermeintlichen Vaters, die Beziehungen der Figuren im Kontext der privaten wie der historischen Geschichte. Das macht seinen Film so authentisch - so besonders.
Die Tochter Tamara und ihre Mutter Barbara, die beide aus demselben Ort kommen, ringen immer wieder um ihre Beziehungen, die eben nicht von den gesellschaftlichen Entwicklungen loszulösen sind, in denen die Familie entstanden, gewachsen und zerfallen ist. Tamara konfrontiert und flüchtet, sucht und glauben will. Sie will ihre Mutter verstehen, sie verteidigen, und gleichzeitig ihre Erzählung einreißen.
Jonas Ludwig Walter über "Tamara"
“Die Bundesrepublik ist meine Heimat, aber ihre Geschichte ist nicht die meiner Familie. Bilder von VW-Käfern auf dem Weg über den Brenner kommen in unserem Familienalbum nicht vor, zu Alice Schwarzer oder Joschka mit den Turnschuhen gibt es keine Beziehung. Die Bonner Republik ist eine fremde Erzählung - und gleichzeitig die meines Landes. Ich liebe diese Ambivalenz und mich interessiert die Kraft der Erzählung von Leerstellen. Dass alles nur eine mögliche Erzählung ist, ist meiner Biografie immanent: Als mein Vater bei einem Unfall ums Leben kam, von jetzt auf gleich, ohne Abschied, geschah das kurz nachdem ich meinen biologischen Erzeuger kennengelernt hatte, von dem ich lange gar nicht wusste. Mein Vater war mein Vater - nun war er weg und außerdem ein anderer da. Die Geschichte der Eltern, die sich als Lüge entpuppt und die sich doch zugetragen hat.
Was ist die Wahrheit, wenn nicht das, was stattgefunden hat? Diesem Gefühl bin ich in "Tamara" nachgegangen.”
Sollte eines Tages der Film "Tamara" auch auf DVD erhältlich und damit die Möglichkeit gegeben sein, ihn nicht nur einmal ganz privat anzuschauen, werden einem dabei die sensiblen Zwischentönen der Trauer und Zuneigung - sichtbar umgesetzt in jeder Geste und hörbar durch jedes ausgesprochene Wort - noch mal mehr so viel bewusster.
“Biografien sind nicht verhandelbar”
Als besonders berührend dürften Menschen den Film empfinden, die sich als selbst Betroffene mit dem Jahrzehnte langen Wunsch nach Anerkennung und der Sehnsucht nach Wahrheit und innerer Heimat konfrontiert sahen/sehen. Jene, die sich teilweise wiederfinden in der Filmtochter Tamara oder ihrer Filmmutter Barbara - unglaublich gut und einfühlsam gespielt von Linda Pöppel und Lina Wendel.
In bis heute nicht erzählten Geschichten erinnern sich Eltern auch noch nach gut 30 Jahren daran, dass sie ihre eigene Unsicherheit den 90er Jahren vermutlich völlig ungewollt auf die eigenen Kinder übertrugen. Daran - wenn sie nur gekonnt hätten - so gern aber ihre eigenen Kindern auf gute Wege gebracht hätten. Stattdessen glaubten wahrscheinlich irrwitzigerweise nicht wenige Kinder, ihre eigenen Eltern - wenn oftmals auch unbewusst - beschützen zu müssen. Mehr über widersprüchliche, im Film so feinfühlig umgesetzte Erzählungen in drei verlinkten Beiträgen von Deutschlandfunk Kultur, SR und chrismon-Magazin:
Kleiner musikalischer Nachtrag zu "großen Gefühlen, wofür sich doch Deutsche sonst schämen" mit Veronika Fischer und Dirk Michaelis: