1972. Lisa hebt ab


Leubingen, Sommer 1972. Mein Zuhause – ein kleines Dorf bei Sömmerda. Ich bin Anfang zwanzig, frisch verheiratet, Junglehrerin. Meine erste eigene Klasse als Klassenlehrerin: eine siebte. Ich nehme das alles sehr ernst – manchmal zu ernst.

Eines Tages schlägt mein Mann – leidenschaftlicher Flieger – vor: „Komm doch mal mit zum Flugplatz in Kölleda.“ Ich sage Ja – nicht ahnend, dass damit ein kleines Abenteuer beginnt.

Es ist Sommer. Die Luft riecht nach Sonne und Gras. So bin ich nun da – inmitten einer eingespielten Gruppe von Segelfliegern. Alle kennen sich, duzen sich, lachen viel. Ich lausche Gesprächen über Thermiken, Starts, Landungen. Ich scheine willkommen. Trotzdem fühle ich mich noch ein wenig außen vor. Denn ich bin die Einzige, die noch nie geflogen ist.

Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. „Lust auf einen kleinen Flug über dein Zuhause?“ flüstert mir eine Stimme ins Ohr. Ich drehe mich um. Der Fluglehrer. Freundlich, zugewandt. Ich lächle – und sage einfach: „Ja.“

Ein Rucksack wird mir umgeschnallt – erst später begreife ich: Es ist ein Fallschirm.
Und schon sitze ich vorne im Zweisitzer. Hinter mir der Fluglehrer. Die Haube schließt sich. Mein Herz hämmert. Dann hebt uns die Winde in den Himmel.

Ein Ziehen. Ein Rucken. Dann ein schwebendes Rauschen – wie Windmusik. Ich sehe unter mir Leubingen. Mein Dorf. Mein ganzes Leben in Miniatur. Die Häuser sehen aus wie Spielzeug. Ich bin verzaubert. Frei. So frei wie nie zuvor.

„Zieh den Knüppel mal leicht zu dir ran“, höre ich von hinten. Ich tue es. Der Flieger steigt höher. Sanfte Kreise über Felder und Erinnerungen. „Jetzt nach vorn drücken – aber ganz vorsichtig.“ Ich drücke – zu schnell. Der Flieger kippt. Es wird steil. „Lisa! Willst du im Rapsfeld landen?!“ ruft er scharf. Ich will antworten – aber ich kann nicht. Mein Kopf ist leer. Mein Arm gehorcht nicht. Mir wird schlecht. Ich beuge mich nach vorn. Und übergebe mich.

Die Landung gelingt trotzdem. Denn die übernimmt mein Fluglehrer. Später stehe ich mit meinem Mann am Flugzeug. Wir putzen es gemeinsam. Ich bin froh, dass mich niemand erkennt. Hoffentlich sieht mich keiner meiner Schüler.

Aber in mir ist etwas passiert. Ich hatte etwas gewagt, was ich mir nie zugetraut hätte.
Ich war geflogen. Über mein Dorf. Über meine Angst. Über mich hinaus.

Ich war Lisa. Und ich war wirklich abgehoben – in jeder Hinsicht.

Zurück I Erwachsen